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Drs. Patrick Simons bei FORUM
„Die wichtigste konservative Methode ist Geduld“

Wodurch entstehen Schmerzen bei Bandscheibenvorfällen? Und welche Behandlungsmethoden sind in welchen Fällen sinnvoll? Diese Fragen und viele mehr hat uns Dr. Patrick Simons beantwortet, Facharzt für Neurochirurgie vom Medizinischen Versorgungszentrum RÜCKENDOC in Köln.

Interview mit Kristina Scherer-Siegwarth von FORUM das Wochenmagazin

DresSimons Kölner Dom

Herr Dr. Simons, welche Menschen sind besonders gefährdet für Bandscheibenvorfälle?

Anders als vermutet und vielfach geschrieben, sehe ich Vorfälle bei dicken, dünnen, schwachen und starken Menschen. Dass es immer nur die Übergewichtigen sind, kann ich nicht bestätigen. Die Altersgruppe der 25- bis 65-Jährigen hat aufgrund des noch nicht so ausgetrockneten Kerns der Bandscheiben eine höhere Häufigkeit.

Bekommen Menschen mit Fehlstellungen wie Beckenschiefstand oder Skoliose häufiger einen Bandscheibenvorfall als Leute ohne Fehlstellungen?

Nein. Sie haben vielleicht häufiger Rückenschmerzen, aber nicht häufiger einen Vorfall. 

An welchen Stellen im oberen Rücken und im unteren Rücken können Bandscheibenvorfälle auftreten und wie unterscheiden sich die Symptome?

Die Bereiche, in denen bewegliche Teile der Wirbelsäule an starre Teile grenzen, sind naturgemäß mehr betroffen. Das sind an der Lendenwirbelsäule die beiden unteren Bandscheiben (zwischen L4/L5 und L5/S1) über dem Kreuzbein (Sakrum), an der Halswirbelsäule die Bandscheiben direkt über dem Brustkorb: C5/6 und C6/7. An der Lendenwirbelsäule gehen dann die Schmerzen bis zum Fuß, an der Halswirbelsäule bis in die Hand.

Welche konservativen Behandlungsmethoden gibt es für Bandscheibenvorfälle, welche Mittel/Medikamente oder auch Physiotherapien kommen zum Einsatz?

Die wichtigste konservative Methode ist „Geduld“. Da es schwierig ist Geduld zu haben, wenn man von Schmerzen geplagt wird, helfen Schmerzmittel. Die zweitwichtigste Methode ist „Vermeidung“. Tätigkeiten und Haltungen, die Schmerzen auslösen sind zu vermeiden, denn Schmerzen bedeuten Stress und Schwellung für den Nerven. Alle andere Behandlungen haben diese zwei Ziele. Wichtig ist auf jeden Fall die Einstellung. Sprüchen wie: „Diese Übung tut weh, aber da müssen Sie durch“ darf man bei einem Vorfall keinen Glauben schenken.

Welche verschiedenen Arten von Bandscheibenvorfällen gibt es?

Es gibt verschiedene Stufen eines Bandscheibenvorfalls. Durch die dauerhafte Belastung werden die zwiebelförmig angeordneten elastischen Ringe des Faserrings (die Verpackung, die Hülle der Bandscheibe) strapaziert und können einreißen. Wenn nicht alle reißen, dehnen sich die verbleibenden aus und es kommt zu einer Vorwölbung. Durch entsprechende Entlastung, Strecken, moderates Schonen reduziert sich der Druck, die Ringe können sich straffen und die Vorwölbung bildet sich zurück. Es kann jedoch auch der letzte Ring reißen und ein Teil vom Kern der Bandscheibe bricht durch. Typischerweise verringert sich dann der Rückenschmerz und stattdessen kommt es zu einer Ausstrahlung. Denn häufig bewegt sich der ausgetretene Kern dahin, wo der Nerv hingehört. Der Nerv wird gedehnt und schmerzhaft komprimiert. Diesen Vorfall nennt der Radiologe „sequestrierter Bandscheibenvorfall“.

Wodurch entstehen die teilweise starken Schmerzen bei einem Bandscheibenvorfall?

Eine gesunde Bandscheibe ist einer der wenigen Bereiche im Körper ohne Gefäße. Das bedeutet auch ohne Zugang zum Immunsystem. Tritt nun Bandscheibenkerngewebe aus der Bandscheibe aus, kommt es in einen Bereich, in dem es viele Gefäße gibt. Das Abwehrsystem kennt das Kerngewebe nicht, erkennt es nicht als „eigen“ und geht zum Angriff über. Einerseits führt das zu einer schmerzhaften sterilen Entzündung, die noch zu dem Druck auf den Nerv hinzukommt, andererseits wird so das Kerngewebe beseitigt.

Wie genau beseitigt der Körper das Kerngewebe?

Indem er es als einen Fremdkörper betrachtet, es wird förmlich verzehrt.

Bedeutet dies, dass sich der Körper selbst heilt?

Ja. Eigentlich ist ein Bandscheibenvorfall der Weg, wie der Körper das Gleichgewicht in der Bandscheibe wieder herstellt. Leider läuft dies nicht perfekt und manchmal schmerzhaft ab, wenn der Teil des Kerns, der „zu viel“ ist, genau dorthin verrutscht, wo schon der Nerv ist. Es gibt auch viele Bandscheibenvorfälle, die nicht auf einen Nerv drücken. Da findet die Bandscheibe ein neues Gleichgewicht und die Rückenschmerzen verschwinden, ohne dass es zu einem Nervenschmerz kommt.

Wie diagnostiziert man einen Bandscheibenvorfall?

Eine genaue Befragung des Betroffenen mit dem Wissen über die Neurologie und die Anatomie ist der erste Schritt. Danach folgt eine eingehende neurologische, körperliche Untersuchung. Wenn sich die Hinweise auf einen Bandscheibenvorfall verdichten und weiterer Klärungsbedarf angebracht ist, weil der Schmerz heftig ist oder Ausfälle vorliegen, ist die Untersuchung der Wahl das MRT. Ein MRT liefert ohne Strahlenbelastung sehr viel Informationen über die Wirbelsäule. Ein MRT zeigt zuweilen aber auch schon mal zu viel. Nicht alles, was von der anatomischen Norm abweicht und vom Radiologen daher beschrieben wird, hat auch einen Krankheitswert! Es kann leicht zu Angst und Unsicherheit beim Patienten kommen, wenn ein nicht erfahrener Wirbelsäulenspezialist die Ergebnisse bewertet und ins richtige Licht rückt. Vieles, was beschrieben wird, ist im biologischen Rahmen oder nur vorübergehend. Entscheidend ist, das Beschwerdebild in Zusammenhang mit dem MRT zu bewerten. Ebenso wichtig ist es, Erfahrung zu haben im sogenannten „natürlichen Verlauf“. Vieles kann unser Körper selber wieder regulieren, manchmal braucht es nur Beratung und Hinweise.

Wie wird ein Bandscheibenvorfall behandelt?

Die Ergebnisse einer MRT sollte immer ein erfahrener Wirbel­säulen­spezialist bewerten - Foto: picture alliance / Hans Wiedl / dpa-Zentralbild / ZB

Schmerzen an der Wirbelsäule sind die Methode des Körpers, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Kleinere Missstände geben meistens nur geringe Schmerzwarnungen und verlangen keine schwerwiegenden Maßnahmen. Der erfahrene Wirbelsäulenspezialist kann einschätzen, ob eine schmerzlindernde Medikation, kombiniert mit einer Anpassung des Verhaltens reicht, um den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bekommen. Beim Rücken könnte man sagen: wieder ins Lot zu bekommen. Eine etwaige Einschätzung der Dauer der Beschwerden hilft dem Patienten, vertrauensvoll in die Zukunft zu schauen. Liegen starke Schmerzen vor, anhaltend oder schlecht ansprechend auf Schmerzmittel, muss genauestens hingeschaut werden und weiterführende Maßnahmen müssen ergriffen werden. Stärkere Medikamente, andere Verabreichung, über Spritze oder Infusion. Bei Ausfällen und auch wenn keine Besserung eintritt, ist dann weitere Diagnostik notwendig.

Was ist zu tun bei starken Schmerzen bei Bandscheibenvorfall?

Rückenschmerzen können viele Ursachen haben, zum Beispiel Muskelverspannung, Arthrose, Fehlhaltung und eher selten auch Überdruck in der Bandscheibe. Meistens geht der Schmerz recht schnell mit geeigneten Maßnahmen wieder weg. Starke Schmerzen treten auf, sobald ein Nerv eingeklemmt wird. Dann strahlt es in Arm oder Bein. Teilweise kann es zu Kribbeln, Taubheit oder Muskelschwäche kommen. Gelingt es dem Körper den Vorfall zu beseitigen, was meist der Fall ist, klingen die Schmerzen wieder ab. Dies gelingt aber nicht immer in einem akzeptablen Zeitrahmen. Wenn ein Nerv droht, einen Schaden davon-  zutragen, ist eine mikroskopische Operation, bei der schonend das ausgetretene Gewebe entfernt wird, ein eleganter Weg, schnell beschwerdefrei zu werden.

Welche Spätfolgen kann es haben, wenn ein Bandscheibenvorfall nicht erkannt wird, zum Beispiel aufgrund fehlender Schmerzen?

Meist fängt ein Problem an der Wirbelsäule mit Schmerzen an. Schmerzen lokal im Rücken, mittig und vielleicht etwas seitlich ausstrahlend. Gehen aber die Schmerzen in Arm oder Bein und kommt es zu Veränderungen im Empfinden der Haut oder sogar einer Muskelschwäche, ist Obacht angebracht. Sehr tückisch ist, wenn auf einmal die Schmerzen weg sind, der Betroffene sich schon freut, aber dann merkt, dass er zum Beispiel den Fuß nicht mehr hochheben kann. Es ist dann kein gutes, sondern ein schlechtes Zeichen, dass keine Schmerzen mehr da sind. Der Nerv ist nicht mal mehr dazu in der Lage. Ausfälle (Lähmungen) können sich wieder zurückbilden, jedoch nicht immer. Somit ist es besser, Ausfällen zuvorzukommen und falls welche auftreten, schnell fachliche Hilfe zu suchen. Jeder Wirbelsäulenchirurg wird Ihnen, wenn Sie am Telefon über Lähmung berichten, kurzfristig einen Termin geben.

Was sind die unangenehmsten Probleme bei Bandscheibenvorfällen?

Die fast schon unangenehmste Stufe der Ausfälle ist ein Verlust der Blasen- oder Mastdarmfunktion. Zum Glück passiert es heute sehr selten, dass es so weit kommt. Meist erreicht man vorher schon einen Spezialisten und es wird ein MRT gemacht. Ein Kauda-Syndrom, so wird der Ausfall dieser Nerven genannt, ist eine sehr dringende Operationsindikation. Leider kann es – auch trotz umgehender Operation – lange dauern, bis sich eine Schwäche zurückbildet. Typischerweise gehen diese Ausfälle einher mit einer Taubheit im Genitalbereich und einem Verlust der Fähigkeit, den Enddarm zu schließen. Die Blase wird auch gelähmt, dadurch kann sie erst mal nicht entspannen, um Wasser zu lassen. Die Blase füllt sich immer weiter, erst wenn sie übervoll und gedehnt ist, läuft Wasser ab.

In welchen Fällen muss man operieren?

Operationen werden immer heiß diskutiert. Bedenken sollte man auch, wann und wie operiert wird. Das Ziel einer Bandscheiben-Operation sollte sein, dem Körper mit möglichst wenig Schaden zu helfen, den Bandscheibendruck vom Nerv zu nehmen, und zwar jetzt und sofort. Das bedeutet, dass es keinen Sinn macht heute zu entscheiden, dass eine Operation angebracht ist und diese dann in drei Monaten zu planen. Der Körper ist sehr gut in der Lage Bandscheibengewebe, das sich an „verkehrter“ Stelle befindet, zu beseitigen, braucht jedoch häufig mehr Zeit dazu, als einem lieb ist. Operieren sollte man, um den ausstrahlenden Schmerz in Arm oder Bein zu beseitigen. Rückenschmerzen sind nicht das Ziel. Letztendlich entscheidet der Arzt, ob eine Operation eine mögliche Option ist, aufgrund der Anamnese, Untersuchung und der Bilder. Der Patient, der Leidende, entscheidet, ob er die Operation möchte. Es gibt an der Bandscheibe kein „Sie müssen operiert werden“. Wir sehen es immer als ein „Sie können operiert werden“. Seltene Ausnahmen sind die erwähnten Ausfälle wichtiger Funktionen.

Die Grafik zeigt, was bei einem Bandscheibenvorfall passiert - Foto: picture alliance / dpa-infografik

Wie haben sich die OPs in den letzten Jahren verändert?

Es gibt mehr Wirbelsäulenspezialisten als vor Jahren. Teilweise konservativ, teilweise operativ tätig. Die Operationsverfahren sind heute deutlich feiner und risikoärmer. Das Mikroskop ist vielerorts zum Standard geworden. Das bedeutet, dass eine Operation eine gute Alternative geworden ist zum monatelangen „Warten und Spritzen“, bei dem der Patient einen monatelangen Verlust von Lebensqualität hat. Der wichtigste Vorteil einer Operation ist, dass der Druck vom Nerv und damit der Schmerz schnellstmöglich beseitigt wird. Die Therapie sollte aber nie schlimmer sein als das Leiden. Eine Operation sollte adäquat sein, nicht zu groß, nicht zu klein. Es sollte nicht der maximal mögliche Eingriff gewählt werden, sondern der mit dem niedrigsten Risiko, der gerade passende. Komplikationen oder Verschlimmerungen sollten akribisch vermieden werden. Ziel einer Operation ist, dass der Betroffene möglichst schnell von den Schmerzen erlöst ist und normale Aktivitäten aufnehmen kann. Früher war eine Operation verbunden mit drei Tagen Rückenlage und sieben bis zehn Tagen Krankenhausaufenthalt. Moderne, schonende Operationstechniken erlauben heute ein Aufstehen schon nach wenigen Stunden und eine Entlassung nach ein bis zwei Nächten. Letztendlich können die Leidenswege heutzutage durch die Operationen deutlich verkürzt werden.

Wie kann man Bandscheibenproblemen und erneuten Vorfällen entgegenwirken?

Es gibt keine hundertprozentige Methode oder Empfehlung, womit ein erneuter Bandscheibenvorfall vermieden werden kann. Außer vielleicht der Vier-Füßler-Gang. Das ist natürlich nicht praktikabel. Man kann seine Wirbelsäule zwar nicht verjüngen, aber die Muskeln verbessern. Unsere Muskeln sind lernfähig und aufbaubar. Unsere Muskeln unterstützen die Wirbelsäule. Muskeln nehmen an Kraft zu durch Bewegung. Ein gesundes regelmäßiges Bewegen ist somit die beste Maßnahme, um neue Vorfälle zu vermeiden. Das ist keine Garantie, aber ein fitter Körper erholt sich noch schneller, falls mal ein Eingriff notwendig wird. 

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Wie entsteht ein Bandscheibenvorfall?

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Der lumbale Bandscheibenvorfall ist eine häufige Ursache für Rücken- und Beinschmerzen. Er entsteht, wenn einer der weichen, gallertartigen Kerne der Bandscheiben in der Lendenwirbelsäule aus seiner normalen Position rutscht und Druck auf die umliegenden Nerven ausübt. Die häufigsten Anzeichen sind Rückenschmerzen, welche bis in die Gesäßmuskulatur, Beine und Füße ausstrahlen können. Auch Muskelschwäche, Taubheit oder Kribbeln in Beinen und Füßen sowie Schwierigkeiten beim Gehen, Stehen oder Sitzen sind Symptome eines Bandscheibenvorfalls. Mit zunehmendem Alter verlieren die Bandscheiben ihre Elastizität und werden anfälliger für Risse und Vorfälle. Übergewicht und schlechte Körperhaltung üben zusätzlichen Druck auf die Wirbelsäule aus und erhöhen das Risiko für einen Bandscheibenvorfall.

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